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Viele Kinder
können mit Wald und Wiese nichts mehr anfangen. Für diesen
Zustand gibt es jetzt auch eine Diagnose, die Natur-Defizit-Störung
Der Freiraum schrumpft. "Kinder, die
ohne Aufsicht draußen spielen, sind eine aussterbende Spezies",
fasst Andreas Weber, Biologe, Philosoph und Autor, das Phänomen
in seinem Buch "Mehr Matsch" zusammen. Der durchschnittliche
Radius, in dem Kinder sich auf eigene Faust bewegen dürfen,
sei in den letzten hundert Jahren dramatisch geschrumpft: von geschätzten
zehn Kilometern in den 1920ern auf kaum mehr als 200 Meter (in den
meisten Fällen ungefähr die Länge der eigenen Wohnstraße,
sofern man denn in einer solchen wohnt). 1990 trieben sich fast
drei Viertel aller Kinder zwischen sechs und 13 Jahren täglich
im Freien herum, 2003 waren es bereits weniger als die Hälfte.
Dass das kein deutsches oder österreichisches Phänomen
ist, zeigt eine Umfrage in Großbritannien: Mehr als 50 Prozent
der britischen Sieben- bis Zwölfjährigen ist es verboten,
alleine oder nur mit Freunden im Park um die Ecke zu spielen oder
auf einen Baum zu klettern.Diese Entfremdung wird mittlerweile mit
mehr als nur Misstrauen beäugt. Der amerikanische Umweltaktivist
Richard Louv ("Das letzte Kind im Wald?") zieht sogar
dramatische Schlüsse: Gewalt, Suchtverhalten, Flucht in virtuelle
Welten, Hyperaktivität, gestörte soziale Beziehungen und
wachsende Gleichgültigkeit seien die Konsequenzen eines Lebens
ohne Natur. Ein Viertklässler, den Louv zitiert, bringt es
auf den Punkt: "Ich spiele lieber drinnen, wo die Steckdosen
sind."Die Leute, die es in erster Linie angeht, nehmen solche
Probleme allerdings nur dann wirklich ernst, wenn sie ein pathologisches
Etikett tragen. In diesem Fall machte Louv den Vermittler und nannte
es "Natur-Defizit-Störung". Seither prasseln Handlungsanleitungen
und Leitfäden auf die Eltern ein, die ihnen dringend nahe legen,
ihren Kindern wieder die Natur zurückzugeben. Komplett mit
Ideen und Projekten, wie man das anlegen könnte.Auch wenn es
auf den ersten Blick lächerlich klingt: Wenn einer Generation,
die in der Kindheit draußen getobt hat, der kindliche Umgang
mit der Natur wieder beigebracht werden muss, könnte die Ratgeber-Flut
helfen, den ungesunden Angst-Stau aufzulösen. In den USA wurde
"Das letzte Kind im Wald?" jedenfalls ein Bestseller.
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DAS NATUR-DEFIZIT-SYNDROM
Der US-Amerikaner Richard Louv provoziert
mit der Diagnose eines Natur-Defizit-Syndroms bei Kindern in seinem
Buch "Last Child in the Woods" (sinngemäß:
das letzte Kind, das noch im Wald spielt).
In seiner Kindheit streifte Richard Louv frei durch Wälder,
Wiesen und Brachlandschaften. Dem entsprechen auch die Wunschvorstellungen
von Tausenden von ihm befragten Kindern des 21. Jahrhunderts: Sie
wollen am liebsten an einem wilden, ungeordneten Platz spielen,
an dem sie ohne elterlichen Einfluss sein können. Unstrukturiert
und vielfältig sollte er sein, kein durchgeplanter Park. In
seinem Buch erforscht Louv ausgehend von seiner eigenen Biografie,
aber auch anhand zahlreicher wissenschaftlicher Studien, wie und
wann es so kam, dass Kinder aufhörten, draußen "unstrukturierte"
Zeit zu verbringen - denn das ist heute vielerorts auch an sonnigen
Nachmittagen ein seltenes Bild geworden.Eltern, die mit guten Absichten
die Freizeit ihres Nachwuchses mit "unterstützenden"
Förderprogrammen verplanen und kontrollieren, nehmen diesem
die Möglichkeit zu spontanem, selbstmotiviertem Spiel, was
zur heute üblichen "Indoor-Krankheit" bzw. "Container-Kindheit"
führen kann. Wenn sie nicht vor dem Monitor sitzen, befinden
sich heutige Kinder fast permanent auf dem Weg von der Schule zum
Fußballtraining oder zwischen Tanzunterricht und Kirche. Diese
Kinder erleben eine "virtuelle, passive und elektronische Kindheit",
schreibt Louv. In der Welt der klar strukturierten Nachmittagsaktivitäten
gibt es kaum noch Freiräume, die zum Erforschen einladen.
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Naturerfahrung als Medizin
Schon sehr früh stoßen heutige
Kinder auf Phänomene der globalen Umweltzerstörung wie
Artenschwund und Klimawandel. Wenn sie über die Umwelt vor
allem solches Wissen erhalten, aber sonst keine Möglichkeit
haben, positive, sinnliche Naturerfahrungen zu machen, wächst
in ihnen eine gefühlsmäßige Trennung von der Umwelt
heran, die Louv als "Ökophobie" bezeichnet.Immer
mehr Kinder erhalten heute die Diagnose Depression oder AD(H)S oder
kommen mit der Schule nicht zurecht, weshalb man ihnen immer größere
Mengen Psychopharmaka verabreicht. Louv zeigt auf, dass es eine
direkte Verbindung zwischen diesen Symptomen und dem naturentfremdeten
Leben unserer Kinder gibt. Wenn ihre Beziehung zu natürlichen
Abläufen fehlt, zum Beispiel, wenn sie nicht wissen, wo das
eigene Essen herkommt, oder welche Pflanzen essbar sind, fühlen
Kinder sich unverbunden und ziellos und werden anfällig für
Süchte und Essstörungen - ein Teufelskreis. Kinder, die
regelmäßig mit ihren Sinnen in die Natur eintauchen dürfen,
sind hingegen gesünder, lebendiger und glücklicher. Hier
können sie ihre Neugier und Lebenslust ausleben und lernen
sich selbst besser kennen. Für viele Kinder mit der Diagnose
AD(H)S wirkt Natur wie ein Medikament. Mit allen Sinnen können
sie in der Natur ihrer natürlichen Lust nach Bewegung und Abenteuer
nachgehen. Das freie, gemeinsame Spielen hilft dabei, selber Rollen
einzunehmen, Kompromisse einzugehen und Lösungen zu finden.Auch
in deutschsprachigen Ländern wächst die Bewegung, die
sich für mehr Naturerfahrung einsetzt. Wenn wir es schaffen,
eine Kultur zu entwickeln, in der das Sein in der Natur und auch
das Gärtnern und Sammeln wieder wichtig werden, helfen wir
unseren Kindern, gesund und glücklich zu werden. Dieses Bewusstsein
lässt sich nicht verordnen. Aber wir können Erwachsene
dazu inspirieren, selber in den Wald zu gehen und zu spielen, damit
sie es am eigenen Leib erfahren. Das Kind in ihnen wird sofort wissen,
wie gut und wichtig das ist. Das Beruhigende: Spielen in der Natur
und die Neugier für die natürliche Umgebung ist nichts,
was wir erst lernen müssen. Es ist bereits in uns, und alles,
was wir tun müssen, ist jene Dinge zu verlernen, die uns davon
abhalten.
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